Wir, die wir die kurze Spanne von rund 100 Jahren moderner Olympischer Spiele überblicken können, in denen schon so viele Wandlungen in Form und Inhalt erfolgt sind, können immer wieder nur staunen über die Beharrlichkeit, mit der die alten Griechen ihre Spiele feierten: Nie dauerten sie länger als fünf Tage, und nie umfassten sie mehr als 18 Wettkämpfe. Das war nur möglich, weil sie als heilige Spiele galten und weil die fromme Scheu vor den Göttern jeden Wandel als Frevel erscheinen ließ.
Die antiken Olympischen Spiele waren lange Zeit mehr ein religiöses als ein sportliches Fest. Alles in Olympia geschah im Namen und zu Ehren des weisesten und stärksten aller griechischen Götter - Zeus. Denn Olympia war vor allem ein Zeus-Heiligtum und über Jahrhunderte zugleich ein Zeus-Orakel.
Auch wenn über den Ursprung der Spiele vielerlei Vermutungen geäußert wurden, so steht heute fest, daß er im Totenkult begründet war. Untersuchungen von Archäologen und Historikern, von Religionswissenschaftern und Mythologen haben ergeben, daß schon sehr früh - noch bevor die Griechen den Peloponnes besetzten, auf dem Olympia liegt - Wettkämpfe an diesem Ort gefeiert wurden.
Die Wurzeln der olympischen Agone (=Wettkämpfe) gehen bis ins frühe zweite Jahrtausend v. Chr. zurück. Anfangs gab es nur einen Wettlauf, der ein kultischer Hochzeitslauf zu Ehren der Erdmutter Demeter gewesen sein dürfte. Später kamen Wettkämpfe für den Fruchtbarkeitsgott Pelops (Hinweis auf den Namen Peloponnes) hinzu.
Eine neue Gestalt bekamen die Olympischen Spiele durch Herakles, Sohn des Zeus. Wie Pausanis, ein griechischer Schriftsteller aus Kleinasien, dem wir die meisten Nachrichten über Olympia verdanken, um 180 n. Chr. berichtet, habe dieser angeordnet, dass sie zu Ehren seines Vaters in einem Zyklus von vier Jahren am Grabe des Pelops veranstaltet werden sollten. Diese Sage dürfte mit den Dorern und Ätolern in Verbindung zu bringen sein, das heißt, mit diesen in Griechenland neu eingewanderten Stämmen ergriff der oberste Gott, Zeus, von der alten Kultstätte Olympia Besitz. Im Mythos ist das so ausgedrückt, daß Herakles Krieg gegen König Augias von Elis führt und dessen Land erobert, bei diesem Heereszug jedoch auf Geheiß des delphischen Orakels Olympia verschont.
Schon im zehnten vorchristlichen Jahrhundert gab es in Olympia einen Altar, auf dem Zeus Opfergaben dargebracht wurden. Die frühesten von Archäologen hier gefundenen Bildnisse zeigen ihn mit Helm und mit Lanze und Schild bewaffnet. Das heißt, der Zeus von Olympia war kriegerisch.
Oder anders gesagt: In Olympia wurde Zeus vor allem als Kriegsgott verehrt, als der Schlachtenlenker, der Götter und Menschen in Schrecken versetzt und der den Kämpfen Sieg oder Niederlage zuteilt.
Ihm wurde im 5. Jahrhundert v. Chr. ein gewaltiger Tempel errichtet, der größte auf dem ganzen Peloponnes - gut 64 Meter lang, fast 28 Meter breit und etwa 20 Meter hoch.
Für den Zeus-Tempel, der nach etwa fünfzehnjähriger Bauzeit im Jahr 456 v. Chr. fertig wurde, beauftragten die Eleer, in deren Gebiet Olympia lag und die seit langem für das Heiligtum und für die Veranstaltung der Spiele zuständig waren, den damals berühmtesten Bildhauer mit der Herstellung eines Zeus-Kultbildes: Phidias von Athen. Er schuf das größte Kultbild des Zeus, das die Griechen je aufgestellt hatten, und es galt bald als eines der Sieben Weltwunder:
Zeus auf dem hölzernen Thron sitzend, eine gut zwölf Meter hohe Statue aus Gold und Elfenbein, innen allerdings hohl; in seiner rechten Hand stand die immerhin lebensgroße Nike, die Göttin des Sieges, in seiner Linken hielt er ein Zepter, auf dessen Knauf ein Adler saß. Das Haar des Gottes und das den Oberkörper bis auf die linke Schulter frei lassende Gewand und die Sandalen waren golden, die unbedeckten Körperteile, also Gesicht, Brust, die Arme, Hände und Füße, waren mit Elfenbein belegt, die Augen bestanden aus farbigen Steinen, und der Kopf war mit einem Kranz von Olivenzweigen geschmückt, wie ihn die Olympioniken als Siegespreis erhielten.
Es war alter Brauch, Zeus zu Ehren den zehnten Teil aller Kriegsbeute nach Olympia zu bringen. Diese bestand nicht nur aus Unmengen von Waffen und Rüstungen (ein kleiner Teil davon wurde von Archäologen ans Licht geholt und lagert im Olympischen Museum in Athen). Es konnte auch Geld sein. Oder Gold und anderes Edelmetall, aus dem in Olympia Münzen geprägt wurden. Bereits seit 510. v. Chr. hatte das olympische Heiligtum eine eigene Prägeanstalt für die Herstellung von Olympia-Gedenkmünzen - auch diese monetäre Begleiterscheinung beschränkt sich also nicht auf die modernen Spiele unserer Tage.
Die Archäologen, die seit Mitte des vorigen Jahrhunderts fleißig bemüht waren, die Geheimnisse um Olympia zu lüften, konnten allerdings nur enttäuscht sein: Schon während der ersten Grabungskampagne (1875 - 1881) zeigte sich, wie sehr Olympia zerstört und in welchem Ausmaß es schon in der Antike und noch im Mittelalter ausgeplündert worden war. Nicht nur die vielen Bronzestatuen und überhaupt nahezu alle metallenen Gegenstände waren längst verschwunden, sondern auch die meisten marmornen Kunstwerke.
Schuld daran hatten gar nicht so sehr - wie oft zu Unrecht vermutet wurde - fremde Eroberer, Erdbeben (wodurch der Zeus-Tempel in den Jahren 522 und 550 n. Chr. total zerstört wurde) oder Überschwemmungen, sondern Bewohner der Umgebung. Diese sahen in den meisten antiken Ruinen (nicht nur Olympia) bessere Steinbrüche: Jeder nahm sich von den Unmengen herrenlos gewordenen Baumaterials, was er brauchen konnte. Von dieser Ausbeutung blieben manchmal nur die tonnenschweren Steine, die niemand transportieren konnte, verschont.
Auch das weltberühmte Zeus-Kultbild ist unwiederbringlich verschwunden: Bereits zur Zeit des Theodosius I. nach Konstantinopel verschleppt, wurde es dort bei einem Großbrand im Jahre 462 n. Chr. ein Raub der Flammen.
Im sechsten Jahrhundert vor Christus wurde der Tempel der Hera errichtet. Er gilt als einer der ersten großen Tempelbauten auf dem griechischen Festland und als eines der frühesten Beispiele der dorischen Baukunst.
Der Tempel beherbergte zahlreiche Kunstschätze, unter ihnen auch die heute noch erhaltene Hermes-Statue des Praxiteles, bei welcher es sich jedoch mit ziemlicher Sicherheit um kein Originalwerk des berühmten Bildhauers handelt, sondern um eine hochwertige Kopie eines zeitgenössischen Künstlers.